#1

Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 18.01.2012 00:04
von Goyhem | 62 Beiträge

Mir fiel auf, dass viele Menschen sich im Leben gewisse Konstrukte aneignen und diese dann beibehalten und höchstens noch daran rumbiegen. Sie machen sich also ein Nest zurecht und möbilieren es dann nur noch fein. Diese Art von Bequemlichkeit ist bei einem Großteil der Menschen hier zu Lande festzustellen. Doch sind die meisten auch nicht wirklich glücklich damit, sondern, und das ist Teil ihres Konstruktes, machen sich vor, glücklich zu sein. Sie biegen sich alle gesellschaftlichen, moralischen, ethischen, religiösen Gegebenheiten für ihr Verständnis zurecht und das war dann auch schon die größte Denkarbeit ihres Lebens.
So viel zu den anderen, aber was mich betrifft, möchte ich ja nicht diesen Weg gehen(stehen). Also gibt es für mich kein festes Konstrukt, kein unumstößliches Dogma, keinen Zweig, an dem ich mich klammern will und trotzdem fühle ich mich nicht frei. Der Schritt vom Wissen, wo das Problem liegt zur Umsetzung und überhaupt zum Verständnis der Lösung ist doch weiter als vermutet. Geht es nicht auch vielen von euch so, dass man nach einer Weile merkt, dass die geistige Freiheit, die man glaubt, erlangt zu haben, sich schnell in die Erkenntnis umwandelt, dass man eigentlich nur in einen größeren Käfig, beziehungsweise in ein plausibleres und komplexeres Konstrukt, gewandert ist? Da gibt es doch einen Weg raus! Vielleicht sehe ich das ganze auch zu sehr aus meiner Froschperspektive.

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#2

RE: Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 18.01.2012 01:46
von Xarvic | 533 Beiträge

Zitat von Goyhem
und das war dann auch schon die größte Denkarbeit ihres Lebens.



Der Widerwille, im Leben nur das gleiche gemacht zu haben, wie alle anderen Menschen, das ist irgendwo im Film "Menschenfeind" recht deutlich ausgedrückt worden. Sehr zu empfehlen der Streifen.

Tja, in wie weit wir darauf vertrauen können, ob das, was wir annehmen, zu wissen oder zu sein, auch so ist, kann manchmal eine schwierige Frage sein, die sich meines Erachtens aber nur dann stellt, wenn wir in der Umsetzung dieser Fragestellung hinter dem liegen, was wir eigentlich erreichen könnten. Ansonsten wüssten wir nämlich, wo wir stehen, nur wenn wir fehl am Platze sind, machen wir uns darüber Gedanken. Meine "Moral" ist daher eine leicht abgewandelte Version der "four vows of the Nabeshima Samurai", welche man im Hagakure findet.

Zitat
One needs neither vitality nor talent. In a word, it is a matter of having the will to shoulder the clan by oneself. How can one human being be inferior to another? In all matters of discipline, one will be useless unless he has great pride. Unless one is determined to move the clan by himself, all his discipline will come to naught. Although, like a tea kettle, it is easy for one's enthusiasm to cool, there is a way to keep this from happening. My own vows are the following :
Never to be outdone in the Way of the Samurai.
To be of good use to the master.
To be filial to my parents.
To manifest great compassion, and to act for the sake of Man.
If one dedicates these four vows to the gods and Buddhas every morning, he will have the strength of two men and will never slip backward. One must edge forward like the inchworrn, bit by bit. The gods and Buddhas, too, first started with a vow.



Erster Punkt bezieht sich auf den gesamten Geist des Werkes. Zweiter Punkt entfällt insoweit, als dass ich keine Menschen kenne, denen ich mit gutem Gewissen dienen könnte oder wollte. Dritter Punkt im Rahmen meiner persönlichen Vorstellungen. Vierter Punkt mit besonderem Gewicht auf Selbstreflektion und dem, was Nietzsche als "Reinigung" bezeichnete.

Ansonsten suche ich mir Dinge, die mich aus der Bahn werfen, um der Apathie vorzubeugen. Dinge, die mich anregen, aggressiv machen. Energetische Dinge.


uɐɯ puıןq ɐ ɹɐǝɥ uɐɔ ǝuoou

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#3

RE: Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 18.01.2012 02:00
von System-Karzinom (gelöscht)
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Schön, dass es heute auch die jungen Menschen sein können, die sich der grundsätzlichen Problematik annähern, ohne von den "Alten" instruiert werden zu müssen.

Die Zeiten haben sich geändert, in dieser Hinsicht sicherlich in erfreulicher Weise, denn da wo vor Jahrzehnten noch die Führung durch eine Autorität als notwendig erachtet wurde, weil Informationen ein eifersüchtig gehütetes Gut waren (in den Jahrhunderten des christlichen Informationsmonopols ohnehin), kann man sich heute nahezu unbegrenzt mit Daten eindecken. Zumindest theoretisch bietet das die Option, sich tatsächlich unabhängig von den Konstruktionen der Meinungsmonopolisten zu entwickeln, wenn nicht genau jene noch immer ihren Einfluß geltend machen würden, um den potentiell ungetrübten Blick zu verschleieren. Letztlich kann das dazu führen, dass trotz einem Kolossalangebot an Informationen dennoch nur jene akribisch selektiert werden, die in ein bereits vorgefasstes Bild passen, das man sich von seiner Umwelt gemalt hat bzw. hat malen lassen.

Die Potenz zur Freiheit als abstrakte Idee bleibt dabei sicherlich stets von äußeren Einflüssen abhängig, man wird schließlich auch dann nicht fliegen können, wenn man das stur will, aber immerhin kann man schon einmal den Willen fassen, zu fliegen. Die reale Umsetzung ist dann nur noch eine Frage der Zeit bzw. der eigenen Motivation. Die Option des Fliegens an sich zu erkennen, befähigt nicht zu fliegen, aber immerhin dazu, die Distanz zwischen Wunschdenken und faktischer Umsetzung zu verringern, bis irgendwann der Gedanke Tat wird.
Wer sich aber daran klammert, ein Mensch könne niemals fliegen, weil es irgendwer einmal gesagt hat, der wird erst gar nicht in die Planungsphase gelangen, er wird also seinen Mißerfolg als solchen gar nicht erkennen, da er keinen Versuch unternommen hat, es doch zu können.

Ideen sind der Wind, der planende Gedanke die Flügel, der Wille die Startbahn.

Zitat von Goyhem
Geht es nicht auch vielen von euch so, dass man nach einer Weile merkt, dass die geistige Freiheit, die man glaubt, erlangt zu haben, sich schnell in die Erkenntnis umwandelt, dass man eigentlich nur in einen größeren Käfig, beziehungsweise in ein plausibleres und komplexeres Konstrukt, gewandert ist?



So ist es. Suggeriert man sich selbst, etwas erreicht zu haben, was andere nicht erreichen, bemißt man den Erfolg an der Relation zum Mißerfolg der anderen, selbst wenn die ganz andere Ziele verfolgen könnten. Die Gefahr einer Zufriedenheit bezüglich des eigenen Status besteht darin, dass man aus der eigenen Beurteilung heraus etwas erreicht hat, sich frei fühlt, aber auch nur in Relation zu anderen. Sich von diesem Gedanken eines Vergleichs befreien zu können, ist ein erster Schritt aus dem Gefängnis, das man als Selbstgefälligkeit umschreiben könnte, denn Selbstgefälligkeit lähmt, friert die Entwicklungsfähigkeit auf einer Stufe ein, die man als hoch bewerten mag, die aber eben auch nur im Vergleich zu höheren oder tieferen Stufen dahingehend bewertet werden kann.

Wenn ich jede Sekunde an mir als Entität zweifle, im Moment der Kommunikation mit der Außenwelt aber realisiere, dass ich den zu diesem Zeitpunkt für mich individuell befriedigendsten Ansatz finden kann, was sich nicht einmal in der Kommunikation mit anderen, sondern mit mir selbst ausdrücken kann, dann habe ich eine kleine Spitze des Eisbergs erblickt, der sich vor meinem eigenen Wahnsinn aufzutürmen beginnt. Wenn Irrsinn nicht mehr Irrsinn ist, sondern für mich Teil des Ganzen, kann ich aufhören zu exkludieren, was mein Geist zuvor nicht zu verarbeiten imstande gewesen wäre. Undenkbares denken und - vor allem - mit sich selbst kommunizieren, schürt die Lust am Wahnsinn, an den Katakomben des Unterbewußtseins, um dort einmal kräftig auszumisten, was sich an ideologischem Unrat dort in den Sozialisationsphasen festgeschissen hat. Und darum träume ich auch in aller Regel nicht mehr, der Surrealismus findet parallel zum Realismus statt. Es erfordert nicht einmal Substanzen, sondern die ungebremste Liebe zur eigenen Physis und der Existenz, mit denen man arbeitet.

Erfindet man sich nicht beständig selbst, lebt man das Leben eines anderen. Entweder das von den Autoritäten zugedachte, oder aber das einer Projektion, deren Umrisse man sich selbst auf das Persönlichkeitsbild geklebt hat.




Befreiungsschlag-Netzpräsenz

zuletzt bearbeitet 18.01.2012 02:03 | nach oben springen

#4

RE: Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 18.01.2012 02:22
von Xarvic | 533 Beiträge

Zitat von SK
Wer sich aber daran klammert, ein Mensch könne niemals fliegen, weil es irgendwer einmal gesagt hat, der wird erst gar nicht in die Planungsphase gelangen, er wird also seinen Mißerfolg als solchen gar nicht erkennen, da er keinen Versuch unternommen hat, es doch zu können.





Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern, die anderen Windmühlen.

Zitat
“People are afraid of themselves, of their own reality; their feelings most of all. People talk about how great love is, but that's bullshit. Love hurts. Feelings are disturbing. People are taught that pain is evil and dangerous. How can they deal with love if they're afraid to feel? Pain is meant to wake us up. People try to hide their pain. But they're wrong. Pain is something to carry, like a radio. You feel your strength in the experience of pain. It's all in how you carry it. That's what matters. Pain is a feeling. Your feelings are a part of you. Your own reality. If you feel ashamed of them, and hide them, you're letting society destroy your reality. You should stand up for your right to feel your pain.”



Pain in life is inevitable but suffering is not. Pain is what the world does to you, suffering is what you do to yourself. Pain is inevitable, suffering is optional.

Zitat von SK
Sich von diesem Gedanken eines Vergleichs befreien zu können, ist ein erster Schritt aus dem Gefängnis, das man als Selbstgefälligkeit umschreiben könnte



Es bring einen auch viel weiter, sich an einem eigenen Maßstab, den man auf der Erfahrung mit dem Selbst baut, zu messen, anstatt mit der Umwelt, die sogesehen immer gleich unfähig bleibt und nur sehr selten aus ihrem routinierten (Nicht)Handeln ausbricht. Wenn man nur noch Augen für sich hat und sich unabhängig von gesellschaftlichen Zielsetzungen bewegt, fällt es um einiges leichter und ist auch erfüllender, sich über die eigenen Grenzen hinauszubewegen, besonders, wenn man schon außerhalb der gesellschaftlichen ist, denn in diesem Falle wäre die relativierte Motivation, sich weiter zu bewegen, eher minimal.


uɐɯ puıןq ɐ ɹɐǝɥ uɐɔ ǝuoou

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#5

RE: Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 18.01.2012 17:51
von Goyhem | 62 Beiträge

Eine Kommunikation mit mir selbst hatte ich schon als Kind, mit meinen vielen Gedanken, einer Flut in meinem Kopf und wenn ich von mir sprach, dann sagte ich oft automatisch "wir", worauf ich verwundert angesehen wurde und das gar nicht verstand.

Zitat von SK
Die Potenz zur Freiheit als abstrakte Idee bleibt dabei sicherlich stets von äußeren Einflüssen abhängig, man wird schließlich auch dann nicht fliegen können, wenn man das stur will, aber immerhin kann man schon einmal den Willen fassen, zu fliegen.



Es ist leicht, zu sagen: "Ich mache einen Plan für das Flugzeug." Dafür suche ich dann die nötige Fachliteratur und rede mit Menschen, die bereits ein Flugzeug gebaut haben, um überhaupt in der Lage zu sein, mich in dieses Vorhaben hinein zu denken und ein funktionstüchtiges Modell aufs Papier zu bringen. Bauen muss ich es aber dann noch selber und das ist beim ersten Mal trotz all dem gewonnen Verständnis gar nicht so leicht, wenn ich keinen Mechaniker gelernt habe.... Warum es mir immer leichter fällt, in Metaphern zu reden, statt es direkt zu sagen?

Zitat von Xarvic
Es bring einen auch viel weiter, sich an einem eigenen Maßstab, den man auf der Erfahrung mit dem Selbst baut, zu messen, anstatt mit der Umwelt, die sogesehen immer gleich unfähig bleibt und nur sehr selten aus ihrem routinierten (Nicht)Handeln ausbricht.



Aber das ist wohl eher das Fundament, wobei ich mal so frei bin und einigen selbsternannten Satanisten und LHPlern unterstelle, dass sie dieses mehr glauben zu haben, als es wirklich zu haben... besonders in der COS fehlt dieses Fundament ja absolut. Die eine Sache ist es, nicht mehr nach den Maßstäben anderer zu leben. Eine ganz andere Sache ist es, seine Maßstäbe überhaupt zu kennen und das zu kennen, was man eigentlich kann.
Ich kann ja viel davon reden, dass ich mein eigener Herr bin und mich kenne, aber ich weiß genau, wie wenig das stimmt, da man doch immer wieder fähig ist, sich selbst zu überraschen und zu entwickeln. Je weiter ich mich bewege, desto merke ich, wie wenig ich mich bisher eigentlich bisher bewegt habe :D

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#6

RE: Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 18.01.2012 18:04
von Xarvic | 533 Beiträge

Zitat von Goyhem
wobei ich mal so frei bin und einigen selbsternannten Satanisten und LHPlern unterstelle



Merkst schon irgendwie, dass "selbsternannt" hier fehl am Platze ist, bzw. falsch rum genutzt ist? Ein LHPler ernennt sich natürlich selbst dazu, alles andere wäre im Sinne dieser Einstellung auch sinnbefreit.

Zitat von Goyhem
Eine ganz andere Sache ist es, seine Maßstäbe überhaupt zu kennen und das zu kennen, was man eigentlich kann.



Das findet man am besten heraus, wenn man einfach umsetzt, was man will. Theoretisch ergründen zu wollen, was man praktisch kann, ist auf die Dauer völliger Unsinn.

Zitat von Goyhem
Je weiter ich mich bewege, desto merke ich, wie wenig ich mich bisher eigentlich bisher bewegt habe



Das hilft mir u.a. beim Akzeptieren, dass die irdische Existenz im Großen gesehen nichtig ist, im eigenen Raum aber sehr wohl von Relevanz, für uns zumindest.


uɐɯ puıןq ɐ ɹɐǝɥ uɐɔ ǝuoou

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#7

RE: Konstrukte, Stagnation und deren Überwindung

in Lobby 22.01.2012 04:13
von Sicarius | 214 Beiträge

Zitat von Xarvic

Das hilft mir u.a. beim Akzeptieren, dass die irdische Existenz im Großen gesehen nichtig ist, im eigenen Raum aber sehr wohl von Relevanz, für uns zumindest.



Die Nichtigkeit verteilt sich zu gleichen Teilen aufs Große und Kleine.


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